ÖSTERREICHISCHE SPITZENKüCHE IN BERLIN: DAS „HORVáTH“

Dieser Teller sieht aus wie eine Unverschämtheit. Das Restaurant hat zwei Michelin-Sterne, das Degustationsmenü ist kein Schnäppchen, und der Koch serviert uns auf einem Brettchen eine milchige Masse mit drei Löffeln, die er „Erster Stich“ nennt. Es ist die Hommage an seine glückliche Kindheitserinnerung, als er die Fünf-Liter-Eimer mit Sauerrahm öffnen durfte und den Löffel in die makellose, jungfräuliche Konsistenz der Oberfläche tauchte – der erste Stich eben.

Wir tun es ihm zunächst mit einem großen goldenen Löffel nach und tunken ihn in die Masse aus Yoghurt und Sahne, die über Nacht bei 40 Grad gereift ist, nehmen dann den roten Löffel, der mit einer Paprika-Reduktion und einer Minz-Infusion bestrichen wurde, greifen schließlich zum kleinen goldenen Löffel, den der Koch mit einem Sirup vom Knoblauch-Kümmel-Essig getränkt hat – und erleben unser Eureka, weil sich uns in diesem radikalen Minimalismus die ganze Geschmackswelt Pannoniens in reinster, tiefster, wahrhaftigster Gestalt auf engstem Raum offenbart. Es ist ein unverschämt guter Teller.

Wunderwerke aus dem Wiener Prater

Sebastian Frank hat kein Interesse mehr an der technischen Verbesserung von Produkten mit den Mitteln der Hochküche. Stattdessen will er in seinem Restaurant „Horváth“ in Berlin-Kreuzberg die schönsten Geschmacksmomente seines kulinarischen Lebens mit den Gästen teilen, all die glücklichen Schlüsselmomente seiner Sozialisation in der österreichisch-ungarischen und vor allem wienerisch-pannonischen Küche, begleitet von den besten Weinen aus der ehemaligen Vielvölker­monarchie, einem ganzen Reigen an Offenbarungen.

Deswegen bekommen wir zum Auftakt erst einen Lángos mit Knob­lauchöl, Sauerrahm und Bergkäse, die ungarische Variante des Windbeutels und der traditionelle Imbiss im Wiener Prater; dann ein „Frühstückssackerl“ aus Frischkäsecreme, Kümmelsaft, gerösteten Körnern und eingelegter roter Zwiebel, vermutlich das Schulbrot des jungen Sebastian; und schließlich gibt es einen Tee aus Kräuterseitlingen von der Intensität einer Hühnerbrühe, um den Gaumen für die kommenden Wunderwerke zu reinigen.

Felix Austria ist Sebastian Franks Schicksalsmacht. Er stammt aus Niederösterreich, wuchs mit der Hausmannskost von Mutter und Großmutter auf, begann schon mit 14 Jahren seine Kochlehre und hat seither den Kosmos der k.u.k.-Küche nie wieder verlassen. Seine Wanderschaft verbrachte er ausschließlich in seinem Heimatland, davon zweieinhalb prägende Jahre in der Wiener Feinschmeckerinstitution „Steirereck“, lernte als Souschef in einem Tiroler Fünf-Sterne-Hotel seine Frau Jeanine kennen und wagte 2010 den Schritt nach Berlin, der Heimatstadt seiner Lebensliebe.

Der plötzliche Wahl-Preuße fing als Küchenchef im „Horváth“ an, das unter dem Namen „Exil“ eine illustre Vergangenheit nicht nur als Diaspora österreichischer Künstler, sondern auch als Stammkneipe David Bowies und außerdem keinen schlechten Ruf als Hort der Kochkunst Österreichs hatte. 2014 übernahm er das Restaurant, das seinen Namen natürlich Ödön von Horváth verdankt und eine dezente Wirtshausanmutung mit Wandgemälden von Jim Avignon kombiniert, erkochte sich in Windeseile zwei Michelin-Sterne und ist seither zu einem der besten Berliner Köche gereift.

Die wundersame Metamorphose der Zucchini

Nirgendwo sonst in Berlin wird aus so wenig so viel wie bei Sebastian Frank. Gebratene Kräuterseitlinge verwandelt er im Pacojet mit Butter, Sherry, Madeira und einem Hühnerei wie von Zauberhand in eine falsche Foie Gras, die zur Praliné geformt, mit einer Spirale aus Apfel-Balsam-Reduktion garniert und auf einem goldenen Teller als Honneur an die Habsburger serviert wird – ein Gang von solch Aromendichte und Geschmackstiefe, dass sich jede Gans künftig vor uns sicher wähnen könnte, wäre Frank unser Leibkoch.

Zucchini werden gedörrt und gegrillt, mit einer Emulsion aus Schmalzzwiebeln und geeistem Gurkensalat kombiniert und erleben so ihre Metamorphose vom langweiligsten aller Gemüse zu einem imperialen Hauptdarsteller auf dem Teller. Und erst bei einem Gemälde von Malewitsch, angerichtet aus Lauchherzen, Herbsttrompeten, Maränen-Kaviar-Vinaigrette, Chardonnay-Essig, Leindotter-Öl und einer Emulsion aus Bergkäserinde, merken wir, dass wir die ganze Zeit über weder Fisch noch Fleisch essen.

„Der Variantenreichtum von Gemüse interessieren mich zurzeit mehr als die klassischen Ingredienzien. Proteine sind mir zu starr und müssen immer denaturiert werden, Gemüse hingegen passt besser zu meinen Gedanken“, sagt der Chefkoch, dessen Menü vom ersten bis zum letzten Gang so durchdacht ist wie die Schachpartie eines Großmeisters. Er will uns den innersten Aromenwesenskern der Schwammerlrahmsauce mit Semmelknödeln, dieser herzhaften österreichischen Wirtshauskost, in seiner puristischsten Form offenlegen. Also gart er Seitlinge in Mandelöl, schmort Champignons in Grünem Veltliner, dämpft Weißbrotscheiben, röstet Hefe, setzt einen Pilzschmorsud mit Majoran und Kirschkernöl an, drapiert alle Zutaten zu einem farbenfrohen Miró und erreicht mit spielerischer Virtuosität, nicht mit verspielter L’art pour l’art, sein Ziel.

Und er übertrifft sich gleich danach selbst mit seinem Sellerie, einer ganz einfachen und doch hochkomplexen Komposition, die erst nach drei Jahren Entwicklungszeit vollendet war. Kleine, taufrische Sellerieknollen werden für eine Stunde gebacken und dann für ein Jahr in einem Salzteig verschlossen, der in den ersten Wochen ständig gedreht werden muss, damit die Flüssigkeit vollständig verdunstet und den Koch zum Knollen- statt Champagner-Remueur werden lässt.

Wenn die neue Sellerie-Ernte da ist, werden frische Scheiben gedämpft, mit dem geriebenen, gereiften Sellerie gewürzt und mit gerösteter Sellerie-Saat und Sellerie-Béchamel arrondiert. Das ist ein grandioses Hochamt für diese so oft unterschätzte Knolle, die Sebastian Frank zur aromatischen Hocharistokratie nobilitiert. Das ist die kaiserlich-königliche Liaison von Denken und Schmecken. Das ist das Kronjuwel der Berliner Spitzenküche.

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